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2024. április. 26. péntek
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„Armutszeugnis für den deutschen Rechtsstaat“

Die Welt: Herr Schulz, gibt es nach dem Tod des Berliner Attentäters Anis Amri Grund zur Entwarnung?

André Schulz: Keinesfalls! Die Ermittlungen laufen weiterhin auf Hochtouren. Wir wissen bisher nicht, ob Amri allein gehandelt hat oder ob hinter ihm weitere Mittäter und Helfer stehen. Eventuell befindet sich immer noch eine gefährliche Terrorzelle unerkannt in Deutschland, die es zu entdecken gilt. Wir versuchen unter anderem, das Tatgeschehen und das Verhalten Amris nach der Tat vollständig zu rekonstruieren.

Andre Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter
Andre Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter

Quelle: picture alliance / ZB

Die Welt: Der Mann konnte vom Tatort und aus der Bundesrepublik verschwinden. Haben unsere Sicherheitsbehörden die Kontrolle verloren?

Schulz: Spätestens seit dem Wegfall sämtlicher Binnengrenzen haben wir in Teilen einen Kontrollverlust erlitten. Wir wissen schon seit Jahren nicht mehr, wer genau nach Deutschland und Europa kommt und was die Personen hier bei uns machen. Gerade durch die hohe Zuwanderung in den letzten Jahren haben wir gesehen, dass viele sicherheitspolitische Maßnahmen nur auf dem Papier existieren und in der Praxis versagen.

Auch der Schutz der europäischen Außengrenzen funktioniert derzeit nur in der Theorie. Durch die Flucht von Anis Amri haben wir gesehen, dass sogar ein bewaffneter Terrorverdächtiger, nach dem gezielt gefahndet wird, relativ frei durch halb Europa reisen kann, ohne dass er irgendwo aufgehalten wird. Die Kontrolle in Italien war reiner Zufall.

Anis Amri
Fahndungsplakat nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt

Quelle: AP/German Federal Police

Die Welt: Bei der Verfolgung von Amri gab es Versäumnisse. Welche Konsequenzen müssen daraus gezogen werden?

Schulz: Für Schuldzuweisungen ist es noch zu früh. Ob die Sicherheitsbehörden vermeidbare Fehler begangen haben, werden die Ermittlungen ergeben. Grundsätzlich hat der Anschlag in Berlin und der Umgang der Behörden mit der Person Amri aber das Potenzial, sich zu einem Desaster für die Sicherheitsbehörden von der Qualität des Nichterkennens der NSU-Terrorzelle zu entwickeln. Mit einiger Sicherheit wird es mindestens einen Untersuchungsausschuss geben, der sich genau mit dieser Fragestellung beschäftigen wird.

Die Welt: Die Sicherheitsbehörden hatten den Tunesier auf dem Schirm. Es gab eine monatelange Telefonüberwachung der Berliner Polizei und eine Beobachtung durch Verfassungsschützer. Nochmals nachgehakt: Welche Fehler sind passiert?

Schulz: Bei fast allen Terroranschlägen der letzten Jahre, so zum Beispiel in Paris, Nizza, Brüssel und jetzt auch in Berlin, war ein Großteil der Täter den Sicherheitsbehörden bereits im Vorwege bekannt. Trotzdem hat man die Taten nicht verhindern können. Es gibt leider einfach zu viele potenzielle Täter in Deutschland und in Europa, die man mit dem vorhandenen Personal nicht alle rund um die Uhr überwachen kann.

Amri erschoss Lkw-Fahrer offenbar Stunden vor Anschlag

Der polnische Lkw-Fahrer, der nach dem Lastwagenanschlag in Berlin tot auf dem Beifahrersitz gefunden wurde, hatte laut Informationen der „Bild“ schon Stunden vor der Tat einen Kopfschuss erlitten.

Quelle: Die Welt

Die Welt: Dieses Argument wird immer angeführt. Muss hier nicht vor allem der harte Kern im Fokus stehen?

Schulz: Mir ist diese pauschale Aussage, dass es schlicht zu viele potenzielle Terroristen in Deutschland gibt, um sie zu überwachen, kombiniert mit einem hilflosen Achselzucken viel zu einfach. Das ist ein Armutszeugnis für den Rechtsstaat. Wir könnten bereits mit den bestehenden Gesetzen viel mehr zum Schutz der Bevölkerung unternehmen. Wie hier zwischen den verschiedenen Behörden oft versucht wird, den Schwarzen Peter hin und her zu schieben, ist teilweise hanebüchen.

Allein aufgrund der bisher bekannten Erkenntnisse hätte Amri längst in Abschiebehaft sitzen können, ja müssen. Dass sich eine Person mit solch einer Biografie wie die von Amri frei und unbehelligt in Deutschland bewegen kann, ist nicht zu akzeptieren.

„Die Kameras sind oftmals die einzigen Zeugen“

Die Welt: Wie können Gefährder besser überwacht werden?

Schulz: Man kann die derzeitige Diskussion nach einer Ausweitung der Videoüberwachung des öffentlichen Raumes führen, muss dann aber auch so ehrlich sein zu sagen, dass damit per se keine Anschläge verhindert werden können. Aber wie wir aktuell im Fall des angezündeten Obdachlosen in der Berliner U-Bahn gesehen haben, hilft eine Videoüberwachung, Taten aufzuklären. Die Kameras sind oftmals die einzigen Zeugen.

Damit hat die Überwachung auch einen präventiven Charakter, auch bei terroristischen Anschlägen: Kann man flüchtige Täter so identifizieren und sie später deshalb festnehmen und in Haft nehmen, können sie keine weiteren Anschläge begehen. Sie können allerdings nicht dauerhaft hinter jede Kamera einen Menschen setzen, der das Geschehen beobachtet. Es gibt aber bereits Erfahrungen in anderen Ländern mit intelligenter Software, die ein verdächtiges Verhalten selbstständig erkennt und Alarm schlägt.

Ein vermummter Imam verlässt in Berlin in Begleitung von Polizisten und Journalisten eine Moschee in der Perleberger Straße. Dort soll sich der mutmaßliche Attentäter vom Breitscheidplatz vor und nach der Tat aufgehalten haben
Ein vermummter Imam verlässt in Berlin in Begleitung von Polizisten und Journalisten eine Moschee in der Perleberger Straße

Quelle: dpa

Die Welt: Innenminister de Maizière (CDU) schafft die Möglichkeit für mehr Videoüberwachung. Doch die Berliner rot-rot-grüne Koalition möchte keine weiteren Kameras installieren. Wie wollen Sie Grüne und Linke von der Notwendigkeit überzeugen?

Schulz: Die Ausweitung der Videoüberwachung des öffentlichen Raums zur Gefahrenabwehr ist grundsätzlich heute schon möglich, wenn es der Berliner Senat denn wollen würde. Der neue Gesetzesentwurf des Bundesinnenministeriums beschäftigt sich ja hauptsächlich mit dem Einsatz intelligenter Auswertetechnik, also der automatischen Identifizierung von Personen durch Gesichtserkennung.

Das hat natürlich von der Schwere des Grundrechtseingriff noch mal ein anderes Gewicht als nur eine normale Videoaufzeichnung. Hier wäre die Regierung in Berlin klug beraten, die Erfahrungen aus der Praxis in anderen Ländern zu betrachten, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen und dann abzuwägen, ob sie auf diese technische Möglichkeit verzichten wollen. Man sollte aber einen Schnellschuss vermeiden, da der Grundrechtseingriff für die Bürger nicht unerheblich ist.

„Wir lassen die Drecksarbeit größtenteils andere machen“

Die Welt: Sollte es längere Löschfristen geben?

Schulz: Die vorhandenen Regelungen für die Erhebung, Speicherung und Löschung der anfallenden Daten bei der Videoüberwachung sind grundsätzlich ausreichend. Während die längerfristige Speicherung von Telekommunikationsdaten über einen längeren Zeitraum, wir reden hier von sechs bis zwölf Monaten, aus kriminalistischer Sicht für die Ermittlungen sinnvoll und notwendig ist, müssen Videoaufzeichnungen nicht so lange gespeichert werden. Hier reichen wenige Tage in der Regel aus.

Die Welt: Wie stark sind die deutschen Sicherheitsbehörden auf die Informationen von US-Geheimdiensten über die islamistische Szene angewiesen?

Schulz: Wir müssen uns in Deutschland zuallererst an die eigene Nase fassen. Wir lassen die „Drecksarbeit“ immer noch größtenteils durch die Geheimdienste anderer Länder machen, von denen dann die Hinweise auf potenzielle Gefährder kommen. Wir haben in Deutschland immer noch nicht die Frage hinreichend diskutiert, was die Sicherheitsbehörden im Zeitalter der Globalisierung und der Digitalisierung dürfen sollen.

Welche Möglichkeiten der Überwachung gewährt man den Behörden? Was wir aber bei ihnen in mehreren Dekaden verkehrt gemacht haben, etwa auch bei der defizitären Einstellung und qualifizierten Ausbildung von Personal, holt man nicht in ein, zwei Jahren auf.

Videoüberwachung, elektronische Fußfesseln, Abschiebung

Nach einer Schweigeminute im Innenausschuss kommt die CSU gleich zur Sache. Alles müsse auf den Prüfstand: Flüchtlingspolitik, Sicherheitspolitik, Videoüberwachung und die Gesetze zur Abschiebung.

Quelle: Die Welt

Die Welt: Gefährdern kann die Ausländerbehörde die Auflage erteilen, sich bei der Polizei täglich zu melden, ein Kontaktverbot zu Personen aussprechen und Telekommunikation unterbinden. Bei Amri ist das nicht geschehen. Reichen diese Maßnahmen aus?

Schulz: Die gesetzlichen Befugnisse sind heute schon recht weitgehend. Man muss diese nur konsequent umsetzen. Dafür fehlte aber bisher der politische Wille. Kaum ein Mensch versteht, warum wir behördlicherseits Menschen in Deutschland in die Illegalität entlassen beziehungsweise de facto auffordern unterzutauchen. Grundsätzlich sollten straffällig gewordene Personen ohne einen gültigen Aufenthaltstitel, wo es möglich ist, konsequent abgeschoben werden. Es gibt zahlreiche Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz und das Asylgesetz, die eine Haftstrafe vorsehen. Man könnte damit gerade Gefährder außer in Abschiebehaft auch in Untersuchungshaft und später gegebenenfalls in Strafhaft nehmen.

Ohne gespeicherte Kommunikationsdaten geht gar nichts

Die Welt: Halten Sie elektronische Fußfesseln für ein geeignetes Kontrollmittel für Gefährder?

Schulz: Man kann als milderes Mittel auch den Einsatz von Fußfesseln bei Gefährdern ausweiten. Damit lässt sich ein Bewegungsradius relativ konkret begrenzen. Ein hundertprozentiger Schutz ist so aber auch nicht gewährleistet. Der Knackpunkt von Tatverdächtigen und sogenannten Gefährdern ist ihre Kommunikation. Es gibt in technischer und rechtlicher Hinsicht blinde Flecken in Deutschland. Deshalb kann man diesen Personenkreis nicht überwachen. Ohne die Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat sind Ermittler vielfach blind. Dann haben sie schlicht keinen Zugriff.

Die Welt: Das BKA-Gesetz soll jetzt reformiert werden. Welche Befugnisse benötigt das Bundeskriminalamt?

Schulz: Wir sollten uns endlich eingestehen, dass der Föderalismus mit seinen vielen verschiedenen Behörden auf Landes- und Bundesebene in seiner derzeitigen Ausprägung ein Sicherheitsrisiko darstellt, ebenso die Kleinstaaterei in Europa. Jeder hat Angst, einen Teil der Kompetenzen abzugeben, und igelt sich lieber ein. Das Bundeskriminalamt sollte noch viel mehr seine Zentralstellenfunktion leben können und weitreichendere Befugnisse bekommen, gerade auch im Bereich der Telekommunikationsüberwachung.

https://www.welt.de/politik/deutschland/article160666755/Armutszeugnis-fuer-den-deutschen-Rechtsstaat.html

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